Der Bericht wurde von Mario Draghi, dem ehemaligen italienischen Regierungschef und Ex-Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), verfasst. Draghi, der während der Euro-Schuldenkrise die Gemeinschaftswährung mit dem Versprechen „Whatever it takes“ verteidigte, verzichtet in seinem aktuellen Bericht auf ähnliche Aussagen. Stattdessen richtet er eine unmissverständliche Warnung an die europäischen Entscheidungsträger: Sollte Europa nicht rasch gegensteuern, drohe dem Kontinent wirtschaftlicher Abstieg und der Zerfall als politisches Projekt.
Ursula von der Leyen, die kürzlich als Präsidentin der Europäischen Kommission wiedergewählt wurde, steht nun vor der Herausforderung, die Empfehlungen des Draghi-Berichts in ihrem Arbeitsprogramm umzusetzen. Es bleibt jedoch offen, ob alle EU-Mitgliedstaaten den von Draghi vorgeschlagenen Maßnahmen zustimmen werden. Besonders Deutschland dürfte sich mit einigen zentralen Aussagen des Berichts schwertun, da Draghi hier an tief verwurzelte deutsche Tabus rührt. Kritik übt der Bericht insbesondere an Deutschlands unzureichenden Investitionen in Zukunftsbereiche wie Infrastruktur, Bildung, Digitalisierung und den Ausbau der Energienetze. Dies sind Probleme, die die Bürgerinnen und Bürger im Alltag deutlich spüren, etwa in Form von Personalmangel und Investitionsstaus im öffentlichen Sektor. Der Draghi-Bericht deutet an, dass die deutsche Schuldenbremse, obwohl nicht explizit erwähnt, die Flexibilität notwendiger Investitionen einschränkt. Draghi plädiert für verstärkte gemeinsame Investitionen in europäische Gemeingüter und fordert neue Finanzierungsinstrumente wie europäische Anleihen.
Diese Vorschläge werden auf Widerstand stoßen. In Deutschland werden Populisten Stimmung gegen Europa machen, dieses wolle auf deutsches Geld zugreifen. Doch auch der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat für Deutschland einen Investitionsbedarf für Deutschland bis 2030 in Höhe von 1,4 Billionen Euro festgestellt. Durch Einsparungen allein wäre dies kaum möglich. Das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) spricht sich für einen Mix aus steuer- und schuldenfinanzierten Mehrausgaben aus und rüttelt an der Schuldenbremse, zumindest in ihrer aktuellen Fassung. Aus den Bundesländern kommen schon seit einiger Zeit parteiübergreifend Stimmen, die die deutsche Schuldenbremse in ihrer heutigen Form in Frage stellen.
Der Draghi-Bericht ist unbequem, aber gerade deshalb von großer Bedeutung. Die Vorschläge, mehr in europäische Gemeingüter zu investieren und neue Finanzierungswege zu erschließen, mögen besonders in Deutschland auf politischen Widerstand stoßen, doch es mangelt bisher an für Deutschland und Europa überzeugenden Gegenentwürfen. Es drängt sich der Eindruck auf, dass die deutsche Finanzpolitik gegenwärtig mehr Europa im Wege steht. Ein föderaler Bundesstaat jedenfalls kann nicht nur auf gemeinsamen Finanzregeln gründen. Er braucht auch gemeinsame Finanzen, die über das Bestehende des Mehrjährigen Finanzrahmens weit hinausgehen.
Christian Moos ist Generalsekretär der überparteilichen Europa-Union Deutschland e.V. und Mitglied im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss.