Langener Zeitung vom 23.10.2023

VON PHILIPP BRÄUNER

Nichts hält länger als das Provisorium. So sollte 1952 auch der Europäische Gerichtshof nur übergangsweise Quartier in Luxemburg beziehen. Heute ist das Großherzogtum neben Brüssel, Straßburg und Frankfurt noch immer zentraler Ort der europäischen Demokratie. Und damit ein beliebtes Reiseziel der Europa-Union in Stadt und Land Offenbach.

Luxemburg – Helmut Geyer kennt sich aus in Luxemburg. Schon auf der Hinfahrt bereitet der stellvertretende Vorsitzende der Europa-Union Offenbach mit harten Fakten und heiteren Anekdoten den fast voll besetzten Reisebus auf das Ziel der gemeinsamen Tour vor. Heute führt er die 42 Interessierten aus Stadt und Kreis Offenbach zu Deutschlands kleinem Nachbarn, so wie insgesamt dreimal in diesem Jahr.

Der Weg ist weit ins Großherzogtum. Über vier Stunden Hin- und Rückfahrt, und das an einem Tag. Dafür entschädigt der Blick aus dem Fenster auf die sanften und teils dichtbewaldeten Hügel des Hunsrück.

Gegen die Mittagszeit hält der Bus schließlich außerhalb der Luxemburger Oberstadt auf der anderen Seite des tiefen Tals, durch das der kleine Fluss Petruss fließt. Über die monumentale, steinerne Adolphe-Brücke geht es zielstrebig durch schmale Gassen in Richtung des Zentrums monarchischer Macht in Luxemburg, dem Palais Grand Ducal.

Dort wartet die erste Enttäuschung: Der Großherzog ist nicht zu Hause, das verrät die nackte Fahnenstange auf dem Dach. Anderenfalls würde dort die blau-weiß-rote Flagge des Kleinstaats wehen. Die Wachsoldaten patrouillieren dennoch vor dem herrschaftlichen Prunkbau in der Fußgängerzone der Luxemburger Altstadt.

Sehr zur Erheiterung der Offenbacher Reisegruppe und der anderen internationalen Touristen reagieren die Soldaten weder auf Zurufe noch auf wildes Gestikulieren, genau wie ihre Kollegen im Vereinigten Königreich. Das Highlight bildet schließlich die Wachablösung. Mit wirbelnden Sturmgewehren, klackernden Stiefeln und aufgezeichnet von einem Dutzend Smartphones tauschen die Militärs paarweise ihre Plätze in den Holzverschlägen vor dem großen Einfahrtstor des Palais.

Auch hier zündet Geyers Expertise und verschafft der Reisegruppe den Platz mit der besten Aussicht. Von der Außenterrasse des „Chocolate House“, laut Geyer der Lieblingskonditorei Jean-Claude Junckers persönlich, hat man freie Sicht auf das Treiben vor dem Palast. Und kann dabei zudem den ausgezeichneten Kuchen genießen.

„Als wir vor ein paar Jahren da waren, kamen gerade die Staatschefs der deutschsprachigen Länder hier an. Die haben einfach dort gehalten und sind zu Fuß durch das Tor“, erinnert sich Geyer und schüttelt den Kopf, „man stelle sich nur vor, was in Deutschland an Sicherheitsvorkehrungen aufgefahren worden wäre bei so einem Besuch.“

Neben den viel gelobten Backwaren kommen auch handfeste politische Debatten auf den Tisch. Es geht um die Glaubwürdigkeit der Grünen und die Würde des Parlaments. Die Diskussionen bleiben dabei ausgewogen und sachlich.

Nach der Verschnaufpause von der langen Fahrt und einem ersten kleinen Spaziergang durch die Luxemburger Altstadt geht es schließlich mit dem Bus weiter zur Hauptattraktion der Reise: dem Hauptsitz des Europäischen Gerichtshofs, dem obersten rechtsprechenden Organ der Europäischen Staatengemeinschaft. Von Ferne sieht man schon die drei goldenen Türme oberhalb der Stadt aufragen. Sie sind umgeben von anderen brandneuen und hochoffiziellen europäischen Verwaltungshauptquartieren. Auf der einen Seite die Europäische Investitionsbank, auf der anderen der Europäische Rechnungshof. Die moderne und teils protzige Architektur der riesigen Bürokomplexe, aber auch die Gebäude der Philharmonie und der Nationalbibliothek im neuen Viertel Kirschberg-Plateau geben der Stadt Luxemburg einen metropolitanen Charakter. Dabei ist es gar nicht lange her, da war auf diesem Gelände nichts als Kuhweide.

Schon die Sicherheitsvorkehrungen am Eingang vermitteln einen Eindruck von dem Stellenwert, den der EuGH in der und für die Europäische Union hat. Wie am Flughafen werden die Besucher einzeln durch den Metalldetektor geschleust und abgetastet. Das Schweizer Taschenmesser eines Mitglieds der Reisegruppe konfiszieren die Sicherheitsleute.

Auch das Innere des riesigen Gerichtsgebäudes hat den Charme einer Flughafenankunftshalle. Der Boden aus dunklem Stein, ansonsten mit viel Glas und Blech ausgestattet, führt der Weg durch das lang gezogene Foyer an der größten juristischen Bibliothek Europas vorbei in Richtung des großen Verhandlungssaals. Bevor die Reisegruppe dort hineingeführt wird, gibt es in einem Besprechungsraum einen kurzen Vortrag einer jungen Anwältin des Europäischen Gerichtshof über die Abläufe innerhalb der Institution.

Schließlich geht es zum zentralen Ort des Europäischen Gerichtshofs: den großen Versammlungssaal im „Palais“, das Herzstück des Ensembles des französischen Architekten Dominique Perrault. Dessen auffälligstes Detail ist die aus gold-metallischen Gliedern gewirkte Deckenabhängung des Saals. Auf zwei Stockwerken sind die Dolmetscher-Kabinen ringsum den runden Saal angeordnet, damit die Verhandlungen im Zweifel für Vertreter aller 27 Mitgliedsstaaten simultan übersetzt werden können. Die Lichter sind alten Grubenleuchten nachempfunden und greifen genau wie die Goldelemente symbolisch die Bergbaugeschichte Luxemburgs auf.

„Warum muss das hier denn alles so prunkvoll sein“, möchte im Anschluss an den begeisterten Vortrag des Touristenführers ein Mitreisender der Offenbacher Delegation wissen, „das ist immerhin mit unseren Steuergeldern bezahlt.“

Damit trifft er offenbar einen Nerv bei dem bekennenden Europäer. Der Europäische Gerichtshof sei der Kern der Judikative der Europäischen Union, also der kontinentalen Demokratie und damit verantwortlich für die Rechtsprechung, die knapp 500 Millionen Menschen beträfe. Zu den Verhandlungen kämen Staatsoberhäupter aus allen Mitgliedsstaaten, um hier die Verhandlungen zu verfolgen. Abgesehen davon: wer über Prunkbauten schimpfe, dürfe vom Kanzleramt in Berlin nicht schweigen.

Bevor die Europa-Union wieder die Heimreise antritt, ist für den Abschluss noch eine knappe Führung durch Luxemburg angedacht. Schon am Gebäude des EuGH steigt daher Touristenführerin Heide Walch in den Bus. Kaum eingestiegen legt sie los und gibt während der Rückfahrt in die Luxemburger Oberstadt eine wort- und anekdotenreiche Tour de Force durch die Geschichte der parlamentarischen Monarchie. Von ihr lernt die Reisegruppe, dass in Luxemburg Wahlpflicht herrscht. Aber auch, dass Hans Wilhelm Voigt, besser bekannt als der Hauptmann von Köpenick, in Luxemburg auf dem Friedhof beerdigt liegt.

Im Schnelldurchlauf geht es wieder durch die Altstadt, dieses Mal unter professioneller Anleitung. Von der „Gelle Fra“, dem Mahnmal für die Soldaten des Ersten Weltkriegs durch die Kathedrale Notre-Dame de Luxembourg, erbaut im 17. Jahrhundert im spätgotischen Stil mit barocken Elementen, auf die andere Seite der historischen Festungsanlage mit Blick ins Alzette-Tal und den ältesten Teil der Stadt, den sogenannten Grund.

Es ist gerade kurz nach 16 Uhr, als Helmut Geyer ein letztes Mal die Reihen im Bus durchzählt und die Reisegruppe der Europa-Union ihren langen Heimweg antritt in Richtung Offenbach.

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