Warschau droht bis auf Weiteres als gestaltender Faktor für eine Stärkung der europäischen Ordnung auszufallen. Nawrocki wird sich eng an das Trump-Lager anlehnen, das den europäischen Staatenverbund als für amerikanische Interessen schädliche Konstruktion wahrnimmt.
Die Lage bleibt angesichts enorm starker souveränistischer Strömungen von rechts und links auch in Deutschland und in Frankreich sowie der enormen Kräfte, die von außen auf Europa einwirken und es auseinanderreißen wollen, schwierig. Dennoch oder gerade deshalb muss die Bundesregierung jetzt alles auf die europäische Karte setzen. Denn nach 2027 könnte es dafür zu spät sein. Im Mai 2027 finden die nächsten Präsidentschaftswahlen in Frankreich statt. Ein Wahlsieg des Rassemblement National von Marine Le Pen und Jordan Bardella liegt im Bereich des Möglichen, auch eine Stichwahl zwischen Kandidaten von RN und La France Insoumise würde zumindest das vorläufige Ende der europäischen Integration, wie wir sie kennen, bedeuten.
An den Rändern des parteipolitischen Spektrums geht eine sonderbare Form der Friedenssehnsucht mit der Bereitschaft einher, Russland als europäische Hegemonialmacht zu akzeptieren. Ein von Russland diktierter Frieden wäre aber ein Gewaltfrieden. Schon heute orientieren sich einzelne europäische Staaten wie Ungarn, die Slowakei und Serbien als autoritäre Satelliten in den russischen Orbit. Und Rumänien stand soeben erst auf der Kippe. 2027 gilt inzwischen auch als Zeitraum für einen möglichen russischen Angriff auf das Baltikum. Dass das amerikanische Sicherheitsversprechen nicht mehr uneingeschränkt gilt, macht europäische Souveränität zu einer überlebenswichtigen Notwendigkeit und entschlossenes gemeinsames Handeln zu einer wirksamen Abschreckung des russischen Aggressors umso dringlicher.
Ohne Frankreich kann die Europäische Union, kann jedwede Form der europäischen Einigung ebenso wenig funktionieren wie ohne Deutschland. Beide allein können die EU auch nicht führen. Wenn Warschau nicht mehr für gemeinsame Initiativen zur Verfügung steht, sollten Berlin und Paris starke europäische Impulse in der Sicherheitspolitik mit Skandinaviern und Balten und trotz der problematischen Rechtsaußenpartei Fratelli d’Italia auch mit Italien setzen. Damit untrennbar verbunden sind konkrete Schritte hin zu einer Kapitalmarktunion, zur Vollendung des europäischen Binnenmarkts. Es braucht ein neues europäisches Gravitationszentrum, wie es das Weimarer Dreieck hätte sein können. Verstärkte Zusammenarbeit ist das Gebot der Stunde. Sie ist eine denkbar schlechte Alternative zu einem gemeinsamen europäischen Voranschreiten nach der Gemeinschaftsmethode, gegenwärtig jedoch die einzig realistische.
Diejenigen, die noch Verantwortung für die europäische Ordnung empfinden, müssen langfristige von kurzfristigen Interessen zu unterscheiden wissen. Innenpolitisch motivierte Kontrollen an den Binnengrenzen zum Beispiel schaden den langfristigen deutschen Interessen mehr als sie innenpolitisch für Entlastung sorgen können, zumal wenn sie wenige Monate vor einer polnischen Schicksalswahl zumindest rhetorisch verstärkt werden. Dabei geht es nicht nur um die Verteidigung des Schengen-Raums und seiner offenen Binnengrenzen. Die deutschen Grenzkontrollen an der deutsch-polnischen Grenze haben ohne jeden Zweifel im Wahlkampf eine schädliche Rolle gespielt. Nawrocki konnte damit antideutsche Ressentiments weiter befeuern und das Regierungslager diskreditieren. Das hat zu seinem knappen Wahlsieg über Rafał Trzaskowski beigetragen.
Für die Bundesrepublik Deutschland ist die europäische Einigung Staatsräson. Innere Reformen werden nicht nachhaltig sein, wenn die europäische Ordnung zerfällt. Bundeskanzler Friedrich Merz und die von ihm geführte Koalition aus Christ- und Sozialdemokraten müssen die Bewahrung der europäischen Ordnung priorisieren. Sie müssen das schmale Zeitfenster bis zum Frühjahr 2027 für entscheidende Weichenstellungen nutzen. Ein starker europäischer Impuls, der die europäische Ordnung sichert, wird auch beflügelnd auf die in Deutschland und Frankreich notwendigen inneren Reformen wirken – ebenso wie letztere auch wichtige Voraussetzungen für mehr europäische Zusammenarbeit mit sich bringen.
Berlin und Paris müssen Warschau – wie alle anderen EU-Partner auch – freundlich einladen, den Weg mitzugehen. Sie müssen ihre Europapolitik so gestalten, dass es vorangeht, gleichzeitig aber keine unüberwindbaren innereuropäischen Gräben entstehen. Das wird kein leichter Balanceakt. Von einer polnischen Blockade abhängig machen, dürfen sich die Deutschen und die Franzosen aber nicht. Der Blockaden sind in Europa zu viele. Es ist fünf vor Zwölf, höchste Zeit sie zu lösen. Von zentraler Bedeutung ist und bleibt bei alledem die Zukunft der Ukraine. Kijv wird ein verlässlicher Partner für eine selbstbestimmte, freiheitliche europäische Ordnung sein. Dafür muss dieses europäische Land, dessen Menschen nicht nur für ihre Freiheit kämpfen, sondern für die ganz Europas, in gesicherten Grenzen überleben. Dafür braucht es die volle Unterstützung seiner europäischen Partner, zu denen insbesondere auch NATO-Partner wie Großbritannien zählen, ohne die eine europäische Sicherheitsordnung keinen Bestand haben wird.
Die europäische Ordnung und das Ziel einer europäischen Föderation zu sichern und zu bewahren, wird auch uns Bürgerinnen und Bürger stärker in die Pflicht nehmen. Es wird nicht ausreichen, von unseren demokratischen Vertreterinnen und Vertretern proeuropäische Bekenntnisse und Aktionen zu erwarten. Das europäische Gemeinwesen erfordert europäischen Gemeinsinn. Die Belastungen, Gefährdungen und Zumutungen unserer Zeit stellen uns als Europäerinnen und Europäer hinsichtlich unserer Anpassungsfähigkeit auf die Probe. Die polnische Präsidentschaftswahl zeigt, dass wir uns nicht zurücklehnen dürfen.
Christian Moos, Generalsekretär der Europa-Union Deutschland e.V.